Seit 1930 gibt es jedes Jahr eine Jahreslosung für das Jahr. Es ist eine Art Leitvers für viele Christen. Normalerweise wird diese dann von Geistlichen ausgelegt und interpretiert.
Wir wollten für den Kalender einen Blick vom Tellerrand auf die Losung und haben eine Atheistin gebeten, ihre Gedanken dazu aufzuschreiben.
catharina k.
Barmherzigkeit? Das gehört nicht zu meinem aktiven Wortschatz und klingt so antiquiert, dass ich mich danach sehne, im – ebenso antiquierten – Duden nachzuschlagen. Ich widerstehe dem Verlangen und behelfe mir selbst: Erbarmen haben und herzlich sein. Als Atheist im 21. Jahrhundert formuliere ich um – und meine genau das Gleiche: eine ausgestreckte, wohlwollende Hand, Empathie, Verständnis und Wärme. Noch zu sperrig für den ökonomischen Jargon der Millennials, also kurz: menschlich sein.
Aber was prädestiniert gerade mich, über Barmherzigkeit zu schreiben – ich bin kein Christ, sicher kein Gelehrter, noch nicht mal ein Philanthrop. Ich bin einzig ein Kind meiner Generation: abgestumpft, reizüberflutet, vernetzt, müde, gestresst – und verkörpere damit den Zeitgeist von Ökonomie, Produktivität, einem ständigen Hinterfragen und einem fortwährenden Kampf gegen scheinbar alles und jeden: Amerika First, Generation Me, Me First, #metoo, Work-Life-Balance, Black Lives Matter, Friday for Future, und die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Während meine Generation diese (selbstgeschaffenen) Probleme umtreiben, hege ich ernsthafte Bedenken bezüglich der Vereinbarkeit des Zeitgeistes mit Menschlichkeit.
Also frage ich mich zunächst, wo Menschlichkeit beginnt, und bin bei mir und meiner berufstätigen, dreifachen Mutter, die allein den Haushalt schmeißt und mit dem stets belächelten „Viele Hände, schnelles Ende“ um die Erledigung des Abwaschs fleht, um einen Termin wahrnehmen zu können. Ich erbarme mich und spüle die Teller. Menschlichkeit beginnt im Kleinen und fällt mir leicht, wenn es um geliebte Menschen und meine moralische Verpflichtung geht, ihnen zu helfen. Unweigerlich drängt sich mir jedoch ebenso die Frage auf, wo Menschlichkeit aufhört. Endet mein Altruismus bereits, wenn es für mich unbequem wird, wenn es leichter ist, den Blick abzuwenden oder vorbei zu hetzen?
Ich gestehe, dass ich nicht mehr hinhöre, wenn Aktion-gegen-den-Hunger in der Werbung um Spenden bettelt, Klimagretel freitags in den Sitzstreik geht, Trump versichert, seine Mauer würde das Land der Einwanderer vor Immigranten schützen, Veganer die Schmackhaftigkeit von Algenburgern beschwören, an plastikfreiem Plastik geforscht wird und ich lieber in ein offenes Gully stürzen würde, als in die Hände der Weltverbesserer von Aktion Tier, die für die Rettung einer bedrohten Froschart sammeln, die am geplanten, neuen Autobahnabschnitt laicht. Von dieser Fülle bin ich schlicht überfordert: Aluminium im Deo und Salz ist schlecht, aber Alufolie geht- zumindest ist sie besser als Frischhaltefolie, denn die landet im Meer und damit im Fisch, den ich aber nicht essen soll. Langweilig, habe ich alles schon gesehen – lief auf Netflix und Joyn und ich höre einfach nicht mehr hin.
Es bedarf einiger Kreativität, um meine Aufmerksamkeit zu erhaschen. An einer roten Ampel zwischen zwei Terminen schreien mich einen Meter große Lettern von einem Plakat regelrecht an: „Es reicht! Für alle.“ und an der nächsten Ampel „Unerhört! Diese Migrantenkinder.“ Ich probiere mich in den verschiedenen Intonationen und entscheide mich für die weiche. Währenddessen verkündet das Radio, dass Pegida durch Dresden marschiert – geeint durch Hass, getrieben von Angst? Eine irrationale Angst vor Ressourcenverlust oder den Menschen, die alles hinter sich lassen, um nach beschwerlicher Reise in besseren Nussschalen wie Schädlinge empfangen zu werden. Wahrlich unerhört! Nicht nur meine Mutter, auch die Mutter der Nation hat verstanden, was mit geeinter Kraft erreicht werden kann. „Ja, wir schaffen das“: Flüchtlinge aufnehmen, integrieren. „Ja, wir schaffen das!“ Ich möchte glauben, dass jedem Menschlichkeit innewohnt, und suche nach Anzeichen. Dann im Frühjahr: Epidemie in China, durch Globalisierung rasch eine Pandemie. Das gesamte öffentliche Leben kommt zum Erliegen, Lockdown und die Krone der Schöpfung wurde von einem kleinen Virus lahmgelegt. Zunächst wird es ruhig, doch bald beginnt sich etwas zu regen: Ein Aushang im Hausflur, der Einkaufshilfe und Botengänge zur Apotheke für ältere Nachbarn anbietet, die man bis dato gar nicht kannte. Berliner Taxiunternehmen chauffieren medizinisches Personal zur Arbeit und die Kostümbildner des geschlossenen Staatstheaters produzieren fortan Alltagsmasken, an den Brücken hängen Lebensmittelspenden für Obdachlose und von den Balkonen hallt Applaus. An die Stelle der Verantwortungsdiffusion tritt ein kollektives Bewusstsein für den Schutz Alter, Kranker und Schwacher.
Ehe ich mit diesem Funken der Hoffnung ende, gestatte ich mir den Blick in meinen verstaubten Duden und finde unter Barmherzigkeit die keineswegs antiquierte und durchaus mit dem Zeitgeist vereinbare Humanität. Wenn es uns vernunftbegabten Wesen gelingt, trotz vermeintlich relevanter Unterschiede in Herkunft, Religion, Geschlecht und Überzeugung mit Herz und Verstand zu agieren und Menschlichkeit als Voraussetzung für das Miteinander zu begreifen, dann versteht sich von selbst, dass Menschlichkeit nicht vor der eigenen Haustür endet, sondern über Ländergrenzen, Hautfarben, Kulturen und Glauben hinausgeht.
Bild von Jonathan Schöps / undarstellbar.com